Sehr geehrter Herr Stadtpräsident, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Stadtverordnete.
Mein Name ist Sabine Hering, ich bin Professorin für Frauen- und Wohlfahrtsgeschichte – jetzt im Ruhestand. Da ich das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Steinmeier nicht zuletzt dafür erhalten habe, dass ich mich seit Jahrzehnten für die Würdigung bedeutender Frauen in der deutschen Geschichte eingesetzt habe, fühle ich mich dazu verpflichtet, dies auch heute und hier zu tun.
Ich möchte mein Plädoyer für die Empfehlung des Kulturausschusses, drei Straßen in der Neuen Mitte nach Anna Flügge, Dr. Erika Wolf und Anna Zielenziger zu benennen, nicht auf den Nachweis der Ehrwürdigkeit der Auserwählten beschränken, sondern auch einen kurzen Blick auf die Gegenargumente werfen.
Argument Nr. 1: Die alten Straßennamen sollen erhalten bleiben.
Nicht nur der renommierte Historiker Martin Sabrow hat darauf hingewiesen, dass es sich in dem vorliegenden Fall nicht – wie vielfach behauptet – um Umbenennungen, sondern um Neubenennungen handelt. In dem Karree der neuen Mitte wird es neue Straßen geben – und der Kulturausschuss hat sich aus guten Gründen dafür ausgesprochen, dies als Chance zu nutzen, eine längst überfällige Würdigung von drei ausgewählten Frauen zu vollziehen – und zwar an den Orten ihres Wirkens.
Argument Nr 2: Die von den Gegnern befürchtete Abkehr von der Bindung an historische Traditionen findet in keiner Weise statt, sondern eine – bisher sträflich vernachlässigte – Ergänzung dieser Traditionen, die der Vielfalt von Potsdams Geschichte gerecht wird.
Damit wird nicht nur einem modernen unverstaubten Geschichtsbewußtsein Folge geleistet, sondern auch dem Auftrag zu mehr Geschlechtergerechtigkeit.
Nun zur Frage: Was repräsentieren die Frauen, um die es hier geht, in der Geschichte Potsdams?
Anna Flügge vertrat mit ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit ebenso wie mit ihrem politischen Engagement als SPD Stadtverordnete die für Potsdams Mitte so typische Handwerkerschaft und das Kaufmannsgewerbe – man denke nur an ihren beliebten Laden am Rande des Alten Marktes – und den noch heute existierenden Kleingartenverein, den sie mitgegründet hat.
Die Ehrwürdigkeit der damals über 60 Jahre alten – in der NS-Zeit verfolgten – Frau aufgrund des Umstands infrage zu stellen, dass sie sich als SPD Mitglied 1946 nicht der Eingliederung in die SED widersetzt hat, finde ich – gelinde gesagt – unlauter.
Anders als Anna Flügge, die ‚Frau aus dem Volk‘, repräsentiert Anna Zielenziger das wohlhabende, engagierte jüdische Bürgertum Preußens. Sie war über lange Jahre als Vorsitzende des Israelitischen Frauenvereins, dessen Treffpunkt in der Schloßstraße lag, eine der auf caritativem und kulturellem Gebiet einflussreichsten Potsdamer Bürgerinnen.
Ihre geplante Rettung vor den Nazis scheiterte am Einmarsch der Wehrmacht in die Niederlande. Sie fiel den Verfolgern in die Hände und starb 1943 in Westerbork.
Dr. Erika Wolf gehörte bereits zur der Generation von Frauen, die Politik zu ihrem Beruf gemacht haben. Nach ihrem Jura-Studium war sie 1945 Mitgründerin der CDU in Potsdam, bis 1950 Stadtverordnete und Leiterin der Abteilung ‚Frauen‘.
Ab 1950 war sie als Politikerin in Westdeutschland tätig, nach der Wende jedoch – nicht zuletzt für den CDU-Landesverband Brandenburg – war sie wieder hier in Potsdam präsent. Sie gehört damit ganz klar an den Ort, der auch das politische Zentrum der Landeshauptstadt ist.
Neben der Tochter von Erika Wolf sollte heute auch die Enkelin von Anna Flügge hier sprechen. Sie ist leider erkrankt, hat aber darum gebeten, den Stadtverordneten ihre Haltung in aller gebotenen Kürze zu vermitteln: Sie befürwortet die Ehrung ihrer Großmutter in der Neuen Mitte. Sie ist aber gleichzeitig der Auffassung, dass ihre persönliche Position als Enkelin nicht ausschlaggebend sein darf, da es ausschließlich eine Entscheidung der Stadt sei, die öffentliche Erinnerung an Anna Flügge zu bewahren.
Ich komme zum Schluss:
Potsdam ist von Königen erbaut, aber von Frauen wie Anna Flügge, Anna Zielenziger und Erika Wolf mit Leben erfüllt worden.
Alle drei Frauen haben in Potsdams Neuer Mitte wichtige Funktionen inne gehabt. Die Auswahl der drei Straßennamen scheint mir deshalb ungewöhnlich ausgewogen und gerechtfertigt zu sein. Ich wünsche mir und der Stadt Potsdam, dass daran nicht gewackelt wird.
Text: Sabine Hering 6. November 2019
Foto: Karoline Wolf (2018 – Landtagsveranstaltung 100 Jahre Frauenwahlrecht)