Was für ein beflügelnder Auftakt! Über 190 Frauen und Männer erinnerten und feierten am 12. November im großen Plenarsaal des Brandenburger Landtages das 100. Jubiläum der Einführung des Frauenwahlrechts.

190 Frauen und Männer feierten im Plenarsaal des Brandenburger Landtages
Für meine/unsere Urgroßmütter wäre dies noch unmöglich gewesen. Denn vor gerade mal vier Generationen besaßen die Frauen in Deutschland keine „Vollbürgerschaft“ – das heißt sie durften weder wählen, noch konnten sie gewählt werden. Und sich demzufolge auch nicht im Sitzungssaal eines Landtages versammeln.
Dass die Gleichstellung von Frauen seitdem nicht mehr zu stoppen ist, zeigte auch die originelle Interpretation des „Queens“-Klassikers „Don’t stop me now“ durch die vier stimmgewaltigen und humorvollen A capella-Sängerinnen von „Gretchens Antwort“ gleich zu Beginn der zweistündigen, überaus schwungvollen Festveranstaltung.

Gretchens Antwort: Don´t stop me now!
Die einen spannungsreichen Bogen von den Kämpfen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die politische Gegenwart schlug. In der inzwischen die frauenpolitischen Sprecherinnen aller im Landtag vertretenen Parteien – außer der AfD – fraktionsübergreifend ein Paritätsgesetz für Brandenburg fordern.
Nach den Grußworten der Gastgeberin, der Landtagspräsidentin Britta Stark, der Schirmherrin Ministerin Susanna Karawanskij und den Vertreterinnen der Veranstalterinnen, Jenny Pöller (für das Autonome Frauenzentrum) und Sarah Zalfen (für das Frauenwahllokal) ging es historisch zur Sache.
Um die wechselvolle historische Entwicklung nachvollziehbar zu machen, hatten die Initiatorinnen des Potsdamer Frauenwahllokals um Sabine Hering, Sarah Zalfen, Irene Kirchner, Jenny Pöller u. a. nicht nur verschiedene Rednerinnen eingeladen, sondern in Zusammenarbeit mit dem freien theater 89 auch eine szenische Collage entwickelt, die den Kampf um das Frauenstimmrecht im deutschen Reichstag theatralisch besonders sinnfällig machte.

Gänsehautmoment: Musikalischer Weckruf zum Frauenstimmrecht
Die in schwarze historische Kostüme gekleideten und ebenso behüteten Schauspieler*innen stellten u. a. anhand der berühmten Rede August Bebels vom 13. Februar 1895, beziehungsweise von Texten der Vorkämpferinnen Hedwig Dohm und Anita Augspurg sehr eindrücklich nach, welche „Sisyphusarbeit“ der Ausrufung des Frauenstimmrechtes durch Kurt Eisner während der Novemberrevolution von 1918 vorausging.
Der Höhepunkt der mal erheiternden mal berührenden Collage war unzweifelhaft, der nach der Melodie der französischen Nationalhymne „Marseillaise“ verfasste, „Weckruf zum Frauenstimmrecht“ (1912) von Anita Augspurg. Einer der ersten Gänsehautmomente, als die Schauspielerin vom theater 89 ihn vortrug, Jubel und Standing Ovations im Potsdamer Plenarsaal. In dem Frauen aus Politik, Kultur und Wissenschaft, von (Frauen-) verbänden und –vereinen gemeinsam und generationenübergreifend feierten. Sogar zwei Kinder waren dabei.

Sabine Hering (links) und Christina Thürmer-Rohr (rechts)
Die darauf folgende Festrede der prominenten feministischen Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr schlug neben würdigenden auch kritische Töne an. Die durch den Begriff der „Mittäterschaft“ – mit dem sie die Mitbeteiligung bzw. Komplizenschaft von Frauen an der institutionalisierten Herrschaft des Patriarchats bezeichnet – bekannt gewordene Pionierin für Frauen- und Geschlechterforschung erinnerte zuerst an Hedwig Dohm.
Und deren wesentliche begriffliche Unterscheidung zwischen „Befreiung“ und „Erhebung“ von Frauen. Dohm selbst sprach nicht von der Befreiung der Frauen – ein Abwerfen von Lasten – sondern von „der Erhebung von Frauen, die sich aus den Niederungen ihrer Demütigungsgeschichte verabschieden und zum aufrechten Gang kommen“.

Begegnungen im Foyer des Landtages mit Jenny Pöller (rechts)
„Dies sei“, so Dohm, „eine stolze, aktive Tat“. „Die Frau verlässt mit allem Risiko den alten zugewiesenen Platz und macht sich durch Überblick und Erkenntniszuwachs gleichrangig – eine Daueraufgabe, vielleicht eine biografische Verwandlung, ein anderes Menschenbild: Wählerinnen, die für sich selbst und für die Demokratie zur Überraschung werden“, so Christina Thürmer-Rohr, die damit den Bogen bis in unsere spannungsreiche, ungemein komplexe Gegenwart spannte.
In der heute „mit Frauenfeindlichkeit Wahlen gewonnen werden können“, so Thürmer-Rohr mit Bezug auf den Trumpismus in den USA bzw. die rechtspopulistischen Entwicklungen in Europa. Doch ein Lichtblick sind vor allem die Jugendlichen, „die heute als Menschen anerkannt werden wollen, nicht als Mann oder Frau“. „Alle sollen die gleichen Rechte, unabhängig vom Geschlecht haben“, dies „ist ihre Rebellion“.

Kämpferisch: Ursula Nonnemacher (Bündnis 90/Die Grünen) Mitte und Sarah Zalfen (rechts)
Zum Abschluss ihrer überaus differenzierten Rede zitierte die 82-jährige Festrednerin nochmals Hedwig Dohm, die bereits 1902 sagte: „Die Welt ist ein Riesenphonograph. Die Ideen, die einmal hineingesprochen werden, klingen wieder.“
Was für ein Brückenschlag, welche Energie! Die auch die frauenpolitischen Sprecherinnen von SPD, Grünen, Linken und CDU sowie dem Frauenpolitischen Rat in der abschließenden, von der Journalistin Sabine Rheinhold moderierten, Talkrunde „Wie geht es weiter mit dem Paritätsgesetz?“ aufnahmen und parteiübergreifend bestätigten, dass dieses Vorhaben in einer breiten, konstruktiven Diskussion und auf einem guten Weg in Brandenburg sei.
Ursula Nonnemacher (Bündnis 90/Die Grünen) rief unter Beifall dazu auf, „den Schwung von 100 Jahren Frauenwahlrecht jetzt zu nutzen, und die noch bestehenden juristischen Hürden beim Paritätsgesetz kreativ zu überwinden“.
Text: Astrid Priebs-Tröger
Fotos: Karoline Wolf
Die Festrede, die Statements der frauenpolitischen Sprecherinnen und die Texte der Theatercollage finden Sie hier:
Festvortrag_100_Jahre_Frauenstimmrecht
Drehbuch 12.11.18 neue Fassung 1